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Genius Loci
Entstehungsjahr der Arbeit: 1994/95


Erinnerungsmale - Genius Loci

Die Stadt gleicht einem heimlichen Hochdruckkessel. Hinter einer Fassade von gestelzter Biederkeit und aufgeregter Provinz verbirgt sich eine mörderische Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem - Geburt und Tod in einer einzigen urbanen Bewegung.
Auf der einen Seite: das Wachsen, Werden, Aufbauen nicht nur von Gebäuden, Plätzen, sondern ebenso oder gar noch mehr von Zielen, Intentionen, Gefühlen, Hoffnungen, Denkweisen, Gesten. Auf der anderen Seite: die Erosion, häufig rasend, manchmal fast unmerklich; verschwundene Häuser, stille Werkstätten, veränderte Freunde, fehlende Gewißheiten, verlorene Emotionen.
Die Balance zwischen Konstanz und Veränderung ist ins Schwanken geraten. Anstelle geduldigen Wachstums ein Boden, der seinen Niedergang schon im Inneren mit sich trägt. Anstelle von Fragen fertige Antworten, deren Nichtigkeit offensichtlich ist. Was von dem Neuen wird sich als wirklich, als dauerhaft erweisen, und was von dem Vergangenen als weiterwirkend?
Es ist eine Situation des Übergangs: Das Verlassene noch nicht begriffen. Das Kommende noch verborgen. Gegenläufige Ströme, die in den Menschen aufeinander treffen. Das ist die Stelle, die interessiert: Die inneren Verwerfungen. Die Störung des Gleichgewichts. Der Verlust der Mitte.

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Aber: Bewegung ist Veränderung, ist Chance, ist Hoffnung.

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Aufgestellt sind: fünf gläserne Gefäße, hüfthoch, im Halbrund versammelt, urbane Gebilde assoziierend. Die Hülle durchscheinend, nur Fenster keine Mauer, das Innere völlig freigebend der Ansicht.
Und da sind zu sehen Erde, Steine als archaische Materialien frühen Vergrabens, Festgrabens im Boden; Holz als einer der Urstoffe, aus denen die Städte wuchsen; Gerätschaften als Zeugnisse immerwährenden menschlichen Gestaltungswillens; Bücher, Zeitungen, Papier als Belege für den ständigen Versuch, sich selbst zu begreifen; Fotografien als Beweise für die Existenz unzähliger persönlicher Geschichten. Hinter den gläsernen Behältnissen hängen Leinwände. Auf ihnen menschliche Körper gespannt in die kristallenen Liniengeflechte architektonischer Baupläne.

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Ohne Besinnung wandelt sich die Hitze der Bewegung in die Kühle der Erstarrung.

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Die Geschwindigkeit ist der Feind der Tatsachen und des Tatsächlichen. Wie kann man begreifen, was eine Wiese ist, wenn man mit hundertfünfzig Stundenkilometer an ihr vorbeifährt? Man sieht sie, aber man riecht nur das Benzin. Man braucht eine Pause, eine Rast, um ihr näherzukommen. Welche Wahrheit sollte sich im Durchblättern erschließen, welche Meinung sich im halben Hinschauen, was die moderne Form des Wegschauens ist, bilden? Das Weltgeschehen wird täglich vollständig veröffentlicht, und man begreift gar nichts. Das einzige, was bleibt, ist das Gefühl, daß alles und alle verdächtig sind. Das einzige, was man empfindet, ist Angst. Und daraus erwächst der Verfolgungswahn und aus ihm neue Verdächtigungen.

Peter Turrini

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Wenn sich Heutiges so über das Vergangene schiebt, daß es nicht mehr kenntlich ist, wenn über das Geschehene, Gedachte und Gefühlte hinweggelebt wird, dann verflüchtigt sich der Genius loci, löst sich fast unmerklich auf. Zuerst ist da noch ein Impuls, ein Widerstand: Ja, wir denken daran, halten fest, wie alles geworden ist. Aber die Abkehr davon ist längst schon vollzogen. Zu tief die Gewohnheit egozentrischen Sich-Selbst-Ausweichens. Zu weit Reden und Handeln voneinander entfernt. Eine rasende Sucht nach Ablenkung bestimmt das Leben, läßt dem Selbstbegreifen keinen Platz. Und die Stadt? Sie wird zu einer unter vielen im gleichmachenden Konsumrausch.

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Das Spezifische eines Ortes kommt durch die Informationen zustande, die an diesem Ort in einmaliger Weise erhältlich sind: Informationen über Menschen und Tiere, Landschaften und Gebäude, ökonomische und soziale Besonderheiten, klimatische und jahreszeitliche Abweichungen, kurz, durch die Einzigartigkeit seiner Gesichter und seiner Gerüche, seiner Geschichten und seiner Traditionen, seiner Stimmen und seiner Stimmungen, seiner Fauna und Flora, seiner Atemluft und seiner Landschaftsanmut. Wenn nun alles mehr und mehr ins Gebäudeinnere sich verlagert und dort simultan die gleichen Informationen verfügbar sind wie überall sonst auch, dann wird der Ort, den es als physische Einmaligkeit natürlich immer noch gibt, sozial und psychologisch abgewertet bis zu jenem Punkt, an dem es sekundär wird, wo man faktisch lebt und arbeitet, weil man medial eh überall dabei ist.

Bernd Guggenberger

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Der Genius loci ist kein zufälliges Produkt heutigen Tuns, sondern die Essenz des Vergangenen, die sich in der Gegenwart immer wieder einlösen muß. Eine Verbindung vom Gewesenen zum Kommenden.
Das verlangt Leben gegen die besinnungslose Geschwindigkeit des Alltags. Denn Bewußtsein unserer selbst ist nur durch Distanz und Reflektion, durch Innehalten und Präsenz vieltausendfacher Erinnerung zu gewinnen.
Deshalb rückt die Installation das Verborgene, das gelebte Leben, in den Vordergrund. Sichtbar gemacht werden erinnerungsträchtige Spuren unserer Biographie. Hier liegt die Erinnerung offen, eine Erinnerung, die Transzendenz gewinnt, wenn sie weitergereicht wird - in allen möglichen Formen, selbst und gerade beim Entstehen neuer Architektur.
So ist die Überpräsenz der Gegenwart für einen Moment der Mahnung zurückgedrängt. Die zukünftigen Häuser der Stadt beschränken sich noch auf die zweidimensionale Form von Bauplänen. Es scheint, als ob in diesem Raum die Maschinen des Fortschritts ruhen. Zwischen Vergangenheit und Zukunft stehen aber wie Wunden die Körper von Menschen. Wunden, die sich nicht schließen...

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Ich glaube nicht, daß wir, was bisher "Fortschritt" genannt wurde - das Krebswachstum unseres Verbrauchs - im Namen des "Verzichts" anhalten können. Es muß ein Lustgewinn dabeisein. Es müssen bestimmte Fähigkeiten, die lange als unproduktiv galten, "etwas bringen", wiederentdeckt werden als Quellen des Glücks. Das heißt, daß Stil, daß Schlankheit weder Zugabe noch Luxus ist, sondern Richtigkeit in der Umgangsform. Ja, die Sache selbst - unsere Sache. Wir stehen ja längst da, wo Faust an seinem Ende steht. Wir müssen "Magie von unserem Pfad entfernen", damit es die Mühe lohne, ein Mensch zu sein. Der Zwang zur Fortsetzung des Falschen darf kein Sachzwang bleiben, wo es um die Sache des Überlebens geht - nein: schon des sinnvollen Lebens. Suchtverhalten - auch Wachstum ist eine Sucht - zerstört die Sinne, bevor es den Sinn zerstört.

Adolf Muschg

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Architektur ist Wirklichkeit und Metapher. Das Haus. Der Platz. Der Turm. Das sind Orte des Lebens. Also Lebensformen, die dem Gewordensein des Menschen gerecht werden müssen. Darauf zielt die Installation. Und noch auf mehr: auf den ganzen Lebensplan. Wer seiner Vergangenheit entflieht, die Erinnerung meidet, kann die Zukunft nicht leben.


Madeleine Heublein