Erinnerungsmale - Genius Loci
Die Stadt gleicht einem heimlichen Hochdruckkessel. Hinter einer
Fassade von gestelzter Biederkeit und aufgeregter Provinz verbirgt sich
eine mörderische Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem - Geburt und Tod
in einer einzigen urbanen Bewegung.
Auf der einen Seite: das Wachsen, Werden, Aufbauen nicht nur von
Gebäuden, Plätzen, sondern ebenso oder gar noch mehr von Zielen,
Intentionen, Gefühlen, Hoffnungen, Denkweisen, Gesten. Auf der anderen
Seite: die Erosion, häufig rasend, manchmal fast unmerklich;
verschwundene Häuser, stille Werkstätten, veränderte Freunde, fehlende
Gewißheiten, verlorene Emotionen.
Die Balance zwischen Konstanz und Veränderung ist ins Schwanken
geraten. Anstelle geduldigen Wachstums ein Boden, der seinen Niedergang
schon im Inneren mit sich trägt. Anstelle von Fragen fertige Antworten,
deren Nichtigkeit offensichtlich ist. Was von dem Neuen wird sich als
wirklich, als dauerhaft erweisen, und was von dem Vergangenen als
weiterwirkend?
Es ist eine Situation des Übergangs: Das Verlassene noch nicht
begriffen. Das Kommende noch verborgen. Gegenläufige Ströme, die in den
Menschen aufeinander treffen. Das ist die Stelle, die interessiert: Die
inneren Verwerfungen. Die Störung des Gleichgewichts. Der Verlust der
Mitte.
*
Aber: Bewegung ist Veränderung, ist Chance, ist Hoffnung.
*
Aufgestellt sind: fünf gläserne Gefäße, hüfthoch, im Halbrund
versammelt, urbane Gebilde assoziierend. Die Hülle durchscheinend, nur
Fenster keine Mauer, das Innere völlig freigebend der Ansicht.
Und
da sind zu sehen Erde, Steine als archaische Materialien frühen
Vergrabens, Festgrabens im Boden; Holz als einer der Urstoffe, aus
denen die Städte wuchsen; Gerätschaften als Zeugnisse immerwährenden
menschlichen Gestaltungswillens; Bücher, Zeitungen, Papier als Belege
für den ständigen Versuch, sich selbst zu begreifen; Fotografien als
Beweise für die Existenz unzähliger persönlicher Geschichten. Hinter
den gläsernen Behältnissen hängen Leinwände. Auf ihnen menschliche
Körper gespannt in die kristallenen Liniengeflechte architektonischer
Baupläne.
*
Ohne Besinnung wandelt sich die Hitze der Bewegung in die Kühle der Erstarrung.
*
Die Geschwindigkeit ist der Feind der Tatsachen und des Tatsächlichen.
Wie kann man begreifen, was eine Wiese ist, wenn man mit hundertfünfzig
Stundenkilometer an ihr vorbeifährt? Man sieht sie, aber man riecht nur
das Benzin. Man braucht eine Pause, eine Rast, um ihr näherzukommen.
Welche Wahrheit sollte sich im Durchblättern erschließen, welche
Meinung sich im halben Hinschauen, was die moderne Form des Wegschauens
ist, bilden? Das Weltgeschehen wird täglich vollständig veröffentlicht,
und man begreift gar nichts. Das einzige, was bleibt, ist das Gefühl,
daß alles und alle verdächtig sind. Das einzige, was man empfindet, ist
Angst. Und daraus erwächst der Verfolgungswahn und aus ihm neue
Verdächtigungen.
Peter Turrini
*
Wenn sich Heutiges so über das Vergangene schiebt, daß es nicht mehr
kenntlich ist, wenn über das Geschehene, Gedachte und Gefühlte
hinweggelebt wird, dann verflüchtigt sich der Genius loci, löst sich
fast unmerklich auf. Zuerst ist da noch ein Impuls, ein Widerstand: Ja,
wir denken daran, halten fest, wie alles geworden ist. Aber die Abkehr
davon ist längst schon vollzogen. Zu tief die Gewohnheit egozentrischen
Sich-Selbst-Ausweichens. Zu weit Reden und Handeln voneinander
entfernt. Eine rasende Sucht nach Ablenkung bestimmt das Leben, läßt
dem Selbstbegreifen keinen Platz. Und die Stadt? Sie wird zu einer
unter vielen im gleichmachenden Konsumrausch.
*
Das Spezifische eines Ortes kommt durch die Informationen zustande, die
an diesem Ort in einmaliger Weise erhältlich sind: Informationen über
Menschen und Tiere, Landschaften und Gebäude, ökonomische und soziale
Besonderheiten, klimatische und jahreszeitliche Abweichungen, kurz,
durch die Einzigartigkeit seiner Gesichter und seiner Gerüche, seiner
Geschichten und seiner Traditionen, seiner Stimmen und seiner
Stimmungen, seiner Fauna und Flora, seiner Atemluft und seiner
Landschaftsanmut. Wenn nun alles mehr und mehr ins Gebäudeinnere sich
verlagert und dort simultan die gleichen Informationen verfügbar sind
wie überall sonst auch, dann wird der Ort, den es als physische
Einmaligkeit natürlich immer noch gibt, sozial und psychologisch
abgewertet bis zu jenem Punkt, an dem es sekundär wird, wo man faktisch
lebt und arbeitet, weil man medial eh überall dabei ist.
Bernd Guggenberger
*
Der Genius loci ist kein zufälliges Produkt heutigen Tuns, sondern die
Essenz des Vergangenen, die sich in der Gegenwart immer wieder einlösen
muß. Eine Verbindung vom Gewesenen zum Kommenden.
Das verlangt Leben gegen die besinnungslose Geschwindigkeit des
Alltags. Denn Bewußtsein unserer selbst ist nur durch Distanz und
Reflektion, durch Innehalten und Präsenz vieltausendfacher Erinnerung
zu gewinnen.
Deshalb rückt die Installation das Verborgene, das gelebte Leben, in
den Vordergrund. Sichtbar gemacht werden erinnerungsträchtige Spuren
unserer Biographie. Hier liegt die Erinnerung offen, eine Erinnerung,
die Transzendenz gewinnt, wenn sie weitergereicht wird - in allen
möglichen Formen, selbst und gerade beim Entstehen neuer Architektur.
So ist die Überpräsenz der Gegenwart für einen Moment der Mahnung
zurückgedrängt. Die zukünftigen Häuser der Stadt beschränken sich noch
auf die zweidimensionale Form von Bauplänen. Es scheint, als ob in
diesem Raum die Maschinen des Fortschritts ruhen. Zwischen
Vergangenheit und Zukunft stehen aber wie Wunden die Körper von
Menschen. Wunden, die sich nicht schließen...
*
Ich glaube nicht, daß wir, was bisher "Fortschritt" genannt wurde - das
Krebswachstum unseres Verbrauchs - im Namen des "Verzichts" anhalten
können. Es muß ein Lustgewinn dabeisein. Es müssen bestimmte
Fähigkeiten, die lange als unproduktiv galten, "etwas bringen",
wiederentdeckt werden als Quellen des Glücks. Das heißt, daß Stil, daß
Schlankheit weder Zugabe noch Luxus ist, sondern Richtigkeit in der
Umgangsform. Ja, die Sache selbst - unsere Sache. Wir stehen ja längst
da, wo Faust an seinem Ende steht. Wir müssen "Magie von unserem Pfad
entfernen", damit es die Mühe lohne, ein Mensch zu sein. Der Zwang zur
Fortsetzung des Falschen darf kein Sachzwang bleiben, wo es um die
Sache des Überlebens geht - nein: schon des sinnvollen Lebens.
Suchtverhalten - auch Wachstum ist eine Sucht - zerstört die Sinne,
bevor es den Sinn zerstört.
Adolf Muschg
*
Architektur ist Wirklichkeit und Metapher. Das Haus. Der Platz. Der
Turm. Das sind Orte des Lebens. Also Lebensformen, die dem Gewordensein
des Menschen gerecht werden müssen. Darauf zielt die Installation. Und
noch auf mehr: auf den ganzen Lebensplan. Wer seiner Vergangenheit
entflieht, die Erinnerung meidet, kann die Zukunft nicht leben.
Madeleine Heublein